Einblicke in mein Buch Homoerotik und Hebräische Bibel

von Karin Hügel

Schon bevor ich für mein Buch zu forschen begann, interessierte ich mich bereits für homoerotische theologische Ansätze, stieß aber auch zufällig auf solche Themen, z.B. als ich mich mit den christlichen antiken Sarkophagen innerhalb meines Studiums der Evangelischen Fachtheologie an der Universität Wien beschäftigte und den sogenannten "Brüdersarkophag"(1) untersuchte. Dort befinden sich zwei männliche Porträtbüsten in der Muschel, welche das Grundschema für die Abbildung eines Ehepaars darstellt. Für BetrachterInnen erscheinen die beiden Männer daher nicht als Brüder – wie in der wissenschaftlichen Literatur behauptet wird – sondern als homoerotisches Paar, was wohl auch so von den Auftraggebern des Frieses intendiert war.

Mein Buch Homoerotik und Hebräische Bibel ist das erste, das als Ganzes die Hebräische Bibel im Zusammenhang mit queeren Thesen behandelt. Im gegenwärtigen Gebrauch ist queer ein inklusiver Überbegriff, welcher für Personen angewendet wird, die lesbisch, schwul, bisexuell, transgender, transsexuell, intersexuell, genderqueer, asexuell und autosexuell sind und welche ihre sexuelle Orientierung oder ihre Identifizierung mit dem soziokulturellem Geschlecht hinterfragen. Er kann auch gender-normative Heterosexuelle beinhalten, deren sexuelle Orientierungen oder Aktivitäten sie außerhalb des heterosexuell definierten Mainstreams stellen (z.B. BDSM-praktizierende oder polyamore Leute). Diese Personen haben das ursprüngliche Schimpfwort gegen sie – engl. "queer" bedeutet "seltsam", "sonderbar" – als affirmative Selbstbezeichnung vereinnahmt und verwenden es im Sinne von "positiv pervers".(2)

Innerhalb der englischsprachigen wissenschaftlichen Literatur gibt es bereits mehr Publikationen zu diesem Themenbereich als in der deutschsprachigen, weshalb ein Großteil der Sekundärliteratur, die in meinem Buch verwendet wird, englischsprachig ist.

Im 1. Teil meiner Publikation bespreche ich den Streit der WissenschaftlerInnen, die sich mit der Untersuchung von "Sexualität" in Bezug auf die Antike beschäftigen, über Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten, insbesondere ob es Sinn macht, für die vormoderne Zeit über Homosexualität zu sprechen, die als exklusive sexuelle Orientierung von PartnerInnen desselben Geschlechts begriffen wird. Es folgt ein Überblick über die Konstruktion von soziokulturellem Geschlecht als Arbeitshypothese mit Begriffsdefinitionen. Das Wort "Homosexualität" vermeide ich, weil es an moderne Konzepteder Sexualität gebunden ist. Stattdessen verwende ich den Begriff "Homoerotik" und weise auf den häufigen anachronistischen Gebrauch von Begriffen der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts und späterer Ausdrücke wie z.B. queer für die Hebräische Bibel hin.(3)

Wegen der ständigen Gefahr des Antijudaismus verwende ich den Begriff "Hebräische Bibel". Im öfter gebräuchlichen Terminus "Altes Testament" kann in nicht auszuschließender Weise eine Feindschaft gegen JüdInnen mitschwingen, nämlich dass innerhalb der christlichen Lehre und Verkündigung das christliche Verhältnis zum Judentum als Gegensatz beschrieben wird und das Judentum damit herabgesetzt, für minderwertig und überholt erklärt wird.

Außerdem gehe ich im 1. Teil meiner Publikation den Fragen der sogenannten "Homosexualität" und biblischer Interpretation sowie der Interpretation gleichgeschlechtlicher Beziehungen einst und jetzt nach. An verschiedenen Orten meines Buchs werden die Stellungnahmen religiöser Organisationen Österreichs zitiert, um deren jetzige Haltungen zu zeigen, nach denen ich zuvor brieflich gefragt habe.

Im 2. Teil meines Buchs behandle ich alle in der Hebräischen Bibel für das Thema "Homoerotik" relevanten Texte – sowohl die Gesetzestexte Levitikus 18,22 und 20,13 als auch die Erzählungen von Sodom (Genesis 19,1-28), von Gibea (Richter 19), von Ham und Noach (Genesis 9,20-27), von Saul, David und Jonatan (1. Samuel 18-20 und 2. Samuel 1,26) und von Ruth, Noomi und Boas (Buch Ruth) – im Rahmen von Rezeptionsästhetik und Intertextualität. Feministische Interpretationen zu diesen Texten wurden zusätzlich dargestellt, wo mir dies passend erschien. Die verschiedenen Konzepte von Rezeptionsästhetik und Intertextualität werden von mir vorgestellt.

Es ist nicht richtig, beim Thema "Homoerotik und Hebräische Bibel" etwa nur auf die Gesetzestexte Lev 18,22 und Lev 20,13 zu verweisen und dabei anachronistischerweise zu behaupten und abzuleiten, dass deshalb "Homosexualität" damals wie heute verboten ist und Strafe nach sich zieht. Ich vertrete die Ansicht, dass der Mann, der in Lev 18,22 und Lev 20,13 angesprochen ist und dessen Handlungen verboten werden, derjenige ist, der sozusagen "Geschlechtsverkehre einer Frau" mit einem anderen Mann praktiziert. Im Hebräischen steht miškěbê ’iššâ, das heißt wörtlich übersetzt "die Liegen" (=Plural) einer Frau. Im Unterschied zur bisher gängigen Auffassung, dass hier nur Analverkehr zwischen Männern geahndet wird, behaupte ich, dass mit hebr. miškěbê ’iššâ alle Formen des Geschlechtsverkehrs einer Frau gemeint sein können. Der Plural hebr. miškěbê kann einerseits bedeuten, wie eine Frau mehrmals Geschlechtsverkehr hat, oder aber, wie eine Frau auf verschiedene Arten und Weisen Geschlechtsverkehr hat, was vielleicht plausibler ist. In Lev 18,22 und Lev 20,13 werden solche Geschlechtsverkehre eines erwachsenen, freien und daher rechtsfähigen Mannes mit einem anderen Mann – es werden keine Einschränkungen in Bezug auf dessen Status, Alter und Herkunft angegeben – verboten.

Ich gebe zu bedenken, dass im Heiligkeitsgesetz gar nicht der Schutz der Jungen und Schwachen intendiert ist, da in diesen Gesetzen des Buchs Levitikus Inzestverbote eines Vaters mit seiner Tochter und mit seinem Sohn bzw. Schwiegersohn fehlen. Gegenüber homophoben Positionen weise ich ausdrücklich darauf hin, dass das biblische Material für heutige Auseinandersetzungen nichts direkt Relevantes bezüglich verschiedener Beziehungen queerer Personen enthält. Für Frauen gibt es auffallenderweise kein Verbot weiblicher Homoerotik in der Hebräischen Bibel, auch keines im Heiligkeitsgesetz. Außerdem frage ich, warum die Verbote männliche Homoerotik betreffend nur im Heiligkeitsgesetz und nicht auch in den anderen beiden älteren großen Rechtssammlungen der Hebräischen Bibel, nämlich dem Bundesbuch Ex 20-22 und dem Deuteronomium, überliefert wurden.

Mit der Thematik des Status lassen sich die Gesetzestexte Lev 18,22 und Lev 20,13 meiner Ansicht nach am ehesten erklären: Für einen Mann bedeutet es einen Machtverlust, die gesellschaftliche Stellung einer Frau einzunehmen, da es ein deutliches Machtgefälle zwischen den Geschlechtern zu Ungunsten der Frauen gab. Möglicherweise stellt nach der Vorstellung von Lev 18,22, auf die dort beschriebene Weise als Mann mit einem anderem Geschlechtsverkehr zu haben, eine besondere Erniedrigung dar.

Weitere "Texte des Terrors" der Hebräischen Bibel für queere Personen sind neben Lev 18,22 und Lev 20,13 die Erzählungen von Sodom in Genesis 19,1-28 und die von Ham und Noach in Genesis 9,20-25. Die heterosexistische Voreingenommenheit gilt es zu kritisieren, wenn diese bestimmtem Texte der Hebräischen Bibel als sogenannte biblische Bezüge zur "Homosexualität" angeführt werden – seit den letzten drei Jahrzehnten sogar auch die Erzählung von Gibea in Richter 19, eine Stadt, welche im Unterschied zu Sodom, dem Ort der "Homosexualität", zum Musterbeispiel der "Bisexualität" aus der Sicht konservativer Interpretationen wurde.

Das Wort "Sodomie" wurde im christlichen Mittelalter von der biblischen Stadt Sodom abgeleitet. Es hatte ganz unterschiedliche Bedeutungen und meinte eine Reihe bestimmter sexuellen Praktiken, die nicht der Fortpflanzung dienten. Bezüglich der Erzählung von Sodom ist u.a. zu sagen, dass der für das Thema Homoerotik zentrale hebräische Begriff yāda in Gen 19,5 keinesfalls eindeutig sexuell interpretiert werden muss. Nicht nur „Erkenntnis“ im sexuellen Sinn kann gemeint sein, sondern auch (nur) "Kennenlernen". Letzteres hat z.B. u.a. auch Johannes Calvin im Unterschied zu Martin Luther in seinem Genesiskommentar zu Kapitel 19 vertreten. Die Vergewaltigungsthese betreffend – d.h. dass die Sodomiter bzw. die Gibeaniter vorgehabt hätten, die jeweiligen fremden Gäste "sexuell kennen zu lernen" – weise ich darauf hin, dass im Zusammenhang mit Gen 19 und Ri 19 die Verwendung des Begriffs "homosexuelle Vergewaltigung" irreführend ist, Homophobie erzeugt und deshalb durch "männliche Vergewaltigung" ersetzt werden sollte, was eine korrektere Beschreibung darstellt. Bedeutsame Veränderungen in der Exegese der Geschichte von Sodom treten hauptsächlich erst ab den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts auf, als es üblicher wurde, dass HistorikerInnen und BibelwissenschaftlerInnen die einfache Gleichsetzung der Sünde der Männer von Sodom mit sogenannter "Homosexualität" in Frage stellen. Die frühesten Interpretationen der Geschichte von Sodom in der Bibel betonen auffallenderweise gar nicht die sexuelle Natur der Sünde Sodoms, sondern beschreiben sie z.B. als Stolz (Ez 16,49f.), Xenophobie (Weisheit Salomos 19,13-16) oder Mangel an Gastfreundschaft (Lk 10,12). Auch in den frühesten Korankommentaren hat sich die ausschließliche Fokussierung auf Homoerotik noch nicht ereignet, mit welcher die Schlechtigkeit von qawm Lūt(4) – "Lūts Volk" später in den islamischen Traditionen verbunden wurde.

Auch die Erzählung von Noach und dessen Sohn Ham in Genesis 9,20-25, welche wegen ihrer Kürze und ihrer textlichen Widersprüche von einer Reihe von WissenschaftlerInnen als "Splitter aus einer umfangreicheren Erzählung" bezeichnet wird, kann unterschiedlich interpretiert werden: als inzestuöse Handlung Hams am Vater oder psychoanalytisch als Noachs gleichgeschlechtliches Begehren gegenüber seinem Sohn oder sogar als sexuelle Begegnung mit ihm.

Ich komme zu dem Schluss, dass es mehrere unterschiedliche Hinweise auf männliche Homoerotik in der Hebräischen Bibel gibt: Ich vergleich die Gesetzestexte Lev 18,22 und Lev 20,13 mit Geschichten wie jener von Ham und Noach in Gen 9,20-25 oder jener von Saul, David und Jonatan in den Samuelbüchern. Ich lege nahe, dass Texte wie Gen 47,29-31 und Gen 24,1-9, in welchen ein Mann den Penis – wörtlich: "unter die Hüfte" – eines anderen Manns, dem er schwört, greift oder packen soll, auch sexuelle Handlungen zwischen Männern beinhalten, ohne diese zu verbieten.

In meinem Buch diskutiere ich, ob die Beziehung der Könige Saul, David und des Königssohns Jonatan als Loyalitätsverhältnis unter Waffenbrüdern und als sexlose Männerfreundschaft oder im Sinne von männlichem Zusammenschluss und Homosoziabilität oder im Sinne von Homoerotik zu verstehen ist. Nicht erst seit der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart haben WissenschaftlerInnen begonnen, den biblischen Erzählkomplex der Geschichten über Saul, David und Jonatan in den beiden Samuelbüchern homoerotisch zu deuten, sondern es gibt bereits eine lange Tradition literarischer homoerotischer Rezeptionen und Aneignungen der Bildenden Kunst und der Musik der biblischen Figuren Saul, David und Jonatan. Zusätzlich gibt es eine kleine Anzahl von freigeistigen Werken des 17. Jahrhunderts, welche den Mythos von Sodom vernünftig zu kritisieren oder zu verhöhnen versuchen, um gleichgeschlechtliche Liebe zu entschuldigen oder sogar zu rühmen. Solche Werke bestätigen eindrucksvoll zusammen mit weiteren literarischen Rezeptionen von Gen 19 bis zur Gegenwart homoerotische Lektüren bereits vor und parallel zu den wissenschaftlichen Interpretationen des 20. und 21. Jahrhunderts.

Bei meiner Lektüre des Buchs Ruth habe ich den Fokus auf die Darstellung von Ruths Bindung an eine Frau – nämlich Noomi – und auf diese Frauenbeziehung als einer Nachzeichnung des Wegs des Affidamento gerichtet und auf das Verschwimmen von sexuell definierten Rollen im Buch Ruth hingewiesen. Vor allem Ruths Worte der Bindung an Noomi in Ruth 1,16 geben Anlass für queere Aneignungen des Buchs Ruth durch lesbische und bisexuelle Midraschim und queere Zeremonien. Außerhalb des wissenschaftlichen Betriebs, innerhalb der Literatur, erfolgte – nicht überraschend – eine radikalere Aneignung der Verbindung von Ruth und Noomi für gleichgeschlechtliche Beziehungen.

Im 3. Teil meines Buchs wird nahe gelegt, Untersuchungen zum Thema "Bibel und Homoerotik" innerhalb des Rahmens einer "queeren Lesart" zu unternehmen, um die Risiken der Aufrechterhaltung der Heteronormativität zu reduzieren. Interpretationen anhand "queerer Kommentare" tragen insgesamt zum Ziel bei, mehr queere Lebensweisen zu erzeugen. Es gibt nicht eine einzige queere Methode, biblische Texte zu lesen, sondern ein weites Feld von queeren Interpretationen, die sich auf bestimmte Auslegungen des Begriffs queer gründen. Ich stelle daher die verschiedenen möglichen Bedeutungen von queer vor und biete einen Überblick über bereits bekannte queere Lesarten von Texten der Hebräischen Bibel. So untersuche ich unter anderem die Schöpfungsberichte.

Zum Schluss komme ich auf einen Vorgänger einer queeren Lesart mit Bezug zur Hebräischen Bibel aus dem 19. Jahrhundert zu sprechen, nämlich Herman Melvilles Roman Moby Dick oder Der Wal, welcher am Anfang der amerikanischen Literatur erschien.

Unterschiedliche Reaktionen zu meinem Buch sind nicht ausgeblieben: Bereits zur Entstehungszeit des Texts von Homoerotik und Hebräische Bibel wurde es mir nicht nur leicht gemacht, mein Studium der Evangelischen Fachtheologie erfolgreich zu beenden; mein als Diplomarbeit eingereichter Text wurde aber approbiert. In der Zwischenzeit hielt ich Workshops in Deutschland und Österreich ausgehend von den Inhalten meines Buchs, wo ich unterschiedliches Publikum genoss. Ich bot einen Überblick über meine bisherigen Forschungsergebnisse am 2. Kongress zur Vernetzung christlicher Lesben- und Schwulengruppen in Bielefeld im Oktober 2008. Mein Vortrag "Homoerotik und Hebräische Bibel" wurde in Jahrgang 16 der Zeitschrift Werkstatt Schwule Theologie 2013 veröffentlicht. Beim Vortrag an der Frauenfrühlingsuniversität im April 2009 in Graz fokussierte ich auf weibliche Homoerotik in der Hebräischen Bibel, wobei mein Artikel "Queere Lesarten des Buchs Ruth und der Schöpfungsberichte" inzwischen in Frauenin/transFormation. Beiträge zur FrauenFrühlingsUniversität Graz 2009 erschienen ist. Eine längere Version dieses Artikels mit dem Titel "Queere Lesarten der Hebräischen Bibel. Das Buch Ruth und die Schöpfungsberichte" findet sich im Jahrbuch der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen, Band 18, aus dem Jahr 2010. An der13. Internationalen Konferenz der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen 2009 mit dem Titel "Ringen um Gott" in Winchester, Großbritannien, lieferte ich zuvor einen Kurzvortrag zum Thema "Weibliche Homoerotik und Hebräische Bibel".

Fußnoten:

(1) Der unter der Bezeichnung "Brüdersarkophag" bekannte Sarkophag mit zwei Männern in einer Bildnismuschel vor der oberen Zone des Frieses befindet sich heute im Museum Pio Cristiano im Vatikan.

(2) Eine affirmative Umdeutung von Beschimpfungen wie bei dem Begriff "queer" ist nicht neu, z.B. frz. "huguenot", ndl. "geus" und "boer", engl. "Quaker" usw. In der Linguistik werden solche Wörter, die ursprünglich eine Personengruppe beleidigen sollten, von dieser aber positiv umgemünzt werden, als Geusenwörter bezeichnet.

(3) Vgl. z.B. Katechismus der Katholischen Kirche, 2357 bzw. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (ed.), Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre an die Bischöfe der katholischen Kirche über die Seelsorge für homosexuelle Personen. 30. Oktober 1986, Nummer 6, in: Link, vom 1. Jänner 2013.

(4) Arabische Worte wie lūtī oder liwāt stammen von arab. qawm Lūt ab, welche die exakte Entsprechung der "Sodomiter" sind.

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