Cover JESWTR 28 2020

Abstract:

Karin Hügel, "Queere Auslegungen der Liebesgebote aus Levitikus".

Die Liebesgebote aus Levitikus – das Nächstenliebegebot in Lev 19,18 und das Fremdenliebegebot in Lev 19,34 – werden im Anschluss an drei traditionelle Interpretationsvarianten des Nächstenliebegebots aus dem Heiligkeitsgesetz queer ausgelegt.

Erstens kann das Nächstenliebegebot (Lev 19,18) folgendermaßen übersetzt werden: "Du sollst deinen Nächsten lieben, wie du dich selbst liebst (bzw. lieben sollst)". Der oder die Nächste soll in dem Maß geliebt werden, wie jemand sich selbst liebt. Ein solches Verständnis dieses Gebots setzt Selbstliebe voraus. Das Nächstenliebegebot könnte aber auch als Gebot zur Selbstliebe betrachtet werden. Einzelnen queeren Menschen etwa mangelnde Selbstliebe vorzuwerfen, könnte von den Betroffenen als Zynismus aufgefasst werden, wenn ein selbstbestimmtes sexuelles Leben für sie nicht möglich ist. Selbstliebe sollte diesen Leuten durch die Schaffung eines Umfelds leichter gemacht werden, welches ihre Lebens- und Liebesweisen fördert. Ein liebevoller Umgang diverser queerer Leute mit sich selbst wiederum wirkt sich auf ihren Umgang mit anderen Mitmenschen positiv aus.

Zweitens kann das Nächstenliebegebot (Lev 19,18) Folgendes bedeuten: "Du sollst deinen Nächsten lieben, denn er ist ein Mensch wie du". In der jüdischen Aufklärung schuf der jüdische Dichter, Sprachwissenschaftler und Exeget Naftali Herz Wessely eine neue jüdische Auslegungstradition des Nächstenliebegebots aus Levitikus, indem er die Gleichheit aller Menschen durch Rekurs auf die Schöpfung theologisch begründete. Aus heutiger feministischer und queerer Sicht gilt es jedoch, eine inklusive Neuinterpretation des biblischen Nächsten- und Fremdenliebesgebots einzufordern, sodass die Liebesgebote aus Levitikus als Aufruf zum respektvollem Handeln auch und besonders gegenüber Frauen und diversen Minderheiten wie queeren Personen verstanden werden können.

Drittens und letztens kann das Nächstenliebegebot (Lev 19,18) im Sinne der negativen Goldenen Regel auf folgende Weise verstanden werden: "Du sollst deinen Nächsten lieben, sodass, was dir verhasst ist, du ihm nicht tun sollst". Bereits zur Zeit der Abfassung der aramäischen Übersetzung des Targum Pseudo-Jonathan galten die Liebesgebote aus Levitikus als auslegungsbedürftig, sodass die negative Goldene Regel in TPsJ zu Lev 19,18 und zu Lev 19,34 eingeflochten wurde. Nicht nur bedeutsamen Rabbinen wie Hillel oder Akiba, sondern auch Jesus von Nazareth wurde die Goldene Regel zugeschrieben. Auch die Goldene Regel sollte heute – im Unterschied zur Antike – inklusiv verstanden werden und unter Einbezug nicht nur von Männern, sondern auch von Frauen und queeren Personen im Sinne einer Ethik des guten Miteinanders aller Menschen dieser Welt angewendet werden.

  • Karin Hügel, "Queere Auslegungen der Liebesgebote aus Levitikus", in: Agnethe Siquans/Anne-Claire Mulder/Clara Carbonell Ortiz (Hg.), Gender, Race, Religion: De/constructing Regimes of In/visibility, Journal of the European Society of Women in Theological Research/Revista de la asociación europea de mujeres en la investigación teológica/Jahrbuch der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen, Band 28, Peeters, Leuven 2020, 201-236.
  • ESWTR-Jahrbuch 28/2020
    VI-286 Seiten,
    ISBN: 978-90-429-4329-2,
    ISSN: 1783-2454,
    eISSN: 1783-2446,
    OLP: EUR 50,00.

    Abstract in den Online-Zeitschriften Peeters
    Online-Zeitschriften Peeters

    Ich habe "Queere Auslegungen der Liebesgebote aus dem biblischen Buch Levitikus" bei der 18. Internationalen Konferenz der Europäischen Gesellschaft für theologische Forschung von Frauen "Geschlecht, Rasse, Religion, De/Konstruieren von Regimen der Un/Sichtbarkeit" am 13.9.2019 an der Katholischen Universität Löwen, Belgien, bei der 7. Jahrestagung der Österreichischen Gesellschaft für Geschlechterforschung "Geschlecht und Geschlechterverhältnisse in Transformation: Räume – Relationen – Repräsentationen am 8.11.2019 an der Universität Innsbruck, Österreich und beim Studientag der Fachschaft der Evangelischen Theologie zum Thema "Feministische* Theologie(n)" am 29.6.2021 an der Universität Tübingen, Deutschland vorgetragen. Unter den Titel "Paraschen queer gelesen: Queere Auslegungen der Liebesgebote aus Levitikus" gab es am 6.3.2022 einen interaktiver Vortrag von mir, organisiert von Keshet Deutschland, Berlin.

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    Hillel lehrt die Goldene Regel, Knesset-Menora, Jerusalem.

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    Cosimo Rosselli, Jesu Bergpredigt 1481/82, Sixtinische Kapelle, Vatikan.

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